Im Gebären hast du die Jungfräulichkeit bewahrt,
und im Entschlafen die Welt nicht verlassen, Gottesgebärerin.
Zum Leben gingst du hinüber als Mutter des Lebens
und rettest auf deine Fürsprache uns vom Tode
Die in Fürbitten unermüdliche Gottesmutter
und in der Hilfe unerschütterliche Hoffnung
konnten Tod und Grab nicht halten,
denn als Mutter des Lebens
hat sie zum Leben geführt
Er, der einst ihren jungfräulichen Schoß
zur Wohnung genommen.
Apostel von den Enden der Erde,
die ihr zusammengekommen
im Flecken Gethsemane,
beerdigt meinen Leib,
und Du, mein Sohn und Gott,
nimm auf meinen Geist.
aus: "Das Synaxarion - die Leben der Heiligen der Orthodoxen Kirche, Zweiter Band - März bis August, Kloster des Hl. Johannes des Vorläufers, Chania (Kreta) 2006, S. 717-719"
Die Entschlafung unserer Herrin, der Allheiligen Gottesmutter.[1]
Als es Christus unserem Gott gefiel, Seine Mutter zu Sich zu rufen, entsandte Er drei Tage im voraus einen Engel – einige sagen, den Erzengel Gabriel – um es ihr kundzutun. Als dieser sich der Gnadenreichen näherte, sagte er: „Dies lässt dein Sohn dir sagen: Die Zeit ist gekommen, Meine Mutter hinaufzurufen zu Mir. Sei nicht besorgt beim Vernehmen dieser Nachricht, sondern freue dich, denn du wirst ausziehen ins Ewige Leben.“ Die Gottesmutter empfing die Botschaft mit großer Freude und begab sich, erfüllt von der Sehnsucht, auszuziehen zu ihrem Sohn, sogleich in den Garten Gethsemane, um in der Stille zu beten, wie sie es oft tat. Da geschah ein erstaunliches Wunder: Als sie den Ölberg hinanstieg, beugten die Bäume ihre Kronen vor ihr nieder, als wären sie beseelte und vernunftbegabte Diener und erwiesen so der Herrin der Welt die gebührende Ehre.
Nachdem sie ihr Gebet beendet hatte, kehrte die Allheilige zurück in ihr Heim auf dem Zion[2]. Als sie das Haus betrat, begann es plötzlich zu beben. Unter Dankgebeten zündete die Gottesmutter alle Lampen an und rief ihre Verwandten und Nachbarn zusammen. Mit eigener Hand ordnete sie das Haus und richtete alles her für ihre Entschlafung und ihr Begräbnis. Den Frauen, die inzwischen eingetroffen waren, teilte sie die Worte des Engels mit und zeigte ihnen zur Bekräftigung den Palmzweig, den ihr der Engel zürn Zeichen des Siegs und der Unverweslichkeit überreicht hatte. Diese nahmen die Nachricht mit Wehklagen und Tränen auf und baten sie, noch zu verweilen und sie nicht als Waisen zurückzulassen, denn sie waren noch der Welt verhaftet. Doch die Allheilige tröstete sie und verhieß ihnen, dass sie auch nach ihrem Auszug in die Himmel nicht aufhören werde, sie zu beschützen, ebenso wie die ganze Welt. Danach schenkte sie ihre beiden Gewänder den beiden armen Witwen, die ihre täglichen Gefährtinnen und Vertrauten waren (s. 2.7., Niederlegung des Gewands, und 31.8., Niederlegung des Gürtels).
Kaum war dies geschehen, erbebte das Haus abermals, dann erdröhnte plötzlich wie ein starker Donner und Wolken erschienen, welche die Apostel von den Enden der Erde herbeitrugen. Zusammen mit den Aposteln erschienen auch der hl. Hierótheos von Athen (4.10.), der hl. Dionysios Areopagita (3.10.) und der hl. Timotheos (22.1.) sowie die übrigen gottweisen Hierarchen[3], sodass, mit dem Herrn selbst und den Engelscharen, bei der Entschlafung der Gottesmutter die ganze Kirche mystisch gegenwärtig war. Mit Tränen in den Augen sagten sie zu der Allheiligen: „Da wir dich sahen, wie du in dieser Welt lebtest und bei uns warst, fühlten wir uns getröstet, so als sähen wir deinen Sohn, unseren Herrn und Meister selbst. Doch da du nun nach Seinem Willen hinübergehst in die himmlischen Stätten, wehklagen wir und weinen, wie du siehst. Zum anderen aber freuen wir uns wegen dem, was für dich bereitet ist.“ Und indem sie diese Worte sprachen, benetzten sich ihre Gesichter. Da antwortete die Allheilige und sagte: „O ihr Freunde und Jünger meines Sohnes und meines Gottes, wandelt nicht meine Freude zu Trauer und Schmerz. Begrabt meinen Leib, so wie ich ihn hinterlasse auf dem Sterbelager.“ Nach diesen Worten erschien auch das auserwählte Gefäß, der hl. Apostel Paulus, an dem Ort und warf sich der Allheiligen zu Füßen, um sie zu verehren. Dann tat er den Mund auf und pries sie mit himmlischen Worten und sagte zu ihr: „Freue dich, Mutter des Lebens und Inhalt meiner Verkündigung, denn obwohl ich deinen Sohn nicht leibhaftig sah auf Erden, war mir, wenn ich dich sah, als sähe ich Ihn selbst.“
Nachdem die Makellose Abschied genommen hatte von allen Anwesenden, legte sie sich auf das Sterbelager, in der Stellung, die sie wollte, und betete und flehte zum Herrn für die Erhaltung und den Frieden der ganzen Welt. Dann gab sie den Aposteln und Hierarchen ihren Segen und übergab lächelnd ihre Seele, rein und strahlender als jedes irdische Licht, in die Hände ihres Sohnes und Gottes, Der erschienen war mit dem Erzengel Michael und den Engelscharen. So wie ihr Gebären ohne Schinerzen geschah, so war auch ihr Sterben ohne Leiden und ohne Todesangst.
Da stimmte als erster der Apostel Petrus den Grabeshymnos an, während die übrigen Apostel die Bahre hoben und in einem feierlichen Umzug, angeführt vom hl. Johannes dem Theologen mit dem Palmzweig in der Hand und von Fackelträgern, unter Hymnengesang zur Begräbnisstätte trugen. Die Engelchöre begleiteten die Gesänge der Menschen, sodass Himmel und Erde vereint waren in jenem Trauer- und Lobgesang zu Ehren der Herrin der Welt. Die Luft ward gereinigt durch den Aufstieg ihrer Seele und die Erde geheiligt durch den in sie gelegten Leib, sodass an jenem Tag viele Kranke gesund wurden. Die Anführer der Juden aber, die diesen Anblick nicht ertragen konnten, heizten einige Männer auf, damit sie die Tragbahre mit dem Leib, der Gott geboren hatte, umstürzten. Doch das Urteil Gottes kam ihnen zuvor, sodass sie mit Blindheit geschlagen wurden. Einem von ihnen, dem Priester Jephonias, dem es in seiner Unverfrorenheit gelungen war, sich mit seinen Händen an das heilige Lager zu klammern, wurden durch das Schwert des göttlichen Zorns beide Arme auf Ellbogenhöhe abgehauen. Da bekehrte er sich und wurde auf ein Wort des hl. Petrus geheilt. Danach berührte er mit einem Blatt des Palmzweigs der Gottesmutter die Augen seiner Gefährten, sodass sie auf der Stelle geheilt wurden sowohl von der Blindheit ihrer Augen, als auch von jener ihrer Seele.
Als sie im Garten Gethsemane ankamen, legten die Apostel den allheiligen Leib der Gottesmutter ins Grab. Sie verharrten drei Tage lang im Gebet an der Stätte, begleitet vom Gesang der Engel. Nach Ratschluss der göttlichen Vorsehung aber war einer der Apostel (Thomas, sagen einige) abwesend beim Begräbnis. Er kam erst am dritten Tag nach Gethsemane, untröstlich darüber, dass es ihm nicht gegeben war, einen letzten Blick zu werfen auf den vergöttlichten Leib der Allheiligen. Da beschlossen die anderen Apostel einmütig, das Grab zu öffnen, damit er den hl. Leib verehren konnte. Als man den Stein hinweghob, der die Gruft verschloss, stellten sie zu ihrer Verwunderung fest, dass dieselbe leer war. Nur das Tuch, das den Leib umhüllt hatte, lag da, zum unwiderlegbaren Zeugnis des Transfers desselben aus dem Grab in die Himmel oder vielmehr über die Himmel hinaus zu ihrem Sohn, um dort wiedervereinigt zu werden mit ihrer Seele[4]. Maria, Tochter Adams, wahrhaftig Gottgebärerin geworden, Mutter Gottes und Mutter des Lebens, indem sie Den gebar, Der das Leben selbst ist (s. Job 14,6), ist mithin durch den Tod gegangen. Doch ihr Tod hat nichts Entehrendes an sich, denn besiegt durch Christus, Der sich ihm freiwillig unterzogen hat zu unserem Heil, ist der Tod vom Fluch Adams zum heilbringenden Geschehnis geworden, zum „lebenspendenden Tod“, zum Anfang eines neuen Lebens. So erscheint das Grab in Gethsemane als „Brautgemach“, in dem die Hochzeit der Unsterblichkeit vollzogen ward. Die Entschlafung der Gottesmutter ist deshalb für uns Gläubige Anlass zur Freude, da sie unsere Hoffnung auf unsere eigene Auferstehung am Letzten Tag bekräftigt und da wir in der Allheiligen fortan eine mächtige Fürsprecherin haben beim Herrn. Dies ist der Grund, warum wir dieses Fest wie ein zweites Pascha feiern[5].
[1] Wie bei den anderen Festen der Gottesmutter hat die liturgische und ikonographische Tradition auch beim Fest der Entschlafung breiten Gebrauch gemacht von den apokryphen Schriften (Pseudo-Johannes d. Theologe, Pseudo-Meliton), wobei sie deren dogmatische Irrtümer korrigierte. In Jerusalem wurde das Fest ursprünglich im Januar gefeiert Kaiser Maurikios von Byzanz (582-602) setzte es danach im ganzen Reich auf den 15. August fest. Viele Kirchenväter haben ihm durch ihre Homilien zu dem Glanz verholfen, den es bis heute hat, namentlich die Hl. Andreas von Kreta, Johannes von Damaskus, Germanos von Konstantinopel, Theodor vom Studien, Gregor Palamas u.a. Man nimmt an, dass die Gottesmutter rund 11 Jahre nach der Auferstehung Christi entschlief, als sie 59 Jahre alt war.
[2] Nach vielen alten Kirchenschriftstellern wohnte sie im Haus des hl. Johannes des Theologen auf dem Hügel Zion, im Südwesten der Altstadt von Jerusalem, vor dem Zion-Tor.
[3] Siehe Dionysios Areopagita, Die Namen Gottes III, 2 (Dt. BGL Bd 26, Hiersemann Stuttgart 1988).
[4] Die Hl. Väter haben vermieden, zu debattieren oder zu dogmatisieren über das Mysterium des Hinübergangs (gr. metástasis) der Mutter Gottes in die Himmel, das für die Kirche Gegenstand ehrfürchtiger Verehrung bleibt und nicht theologischer Definitionen. Sie zogen es vor, diesen Hinübergang zu betrachten als Vollendung des Heilswerks des Erlösers durch die „Mit-Auferstehung“ und „Mit-Verherrlichung“ der Allheiligen Jungfrau, wobei sie jedoch den Begriff „Auferstehung“ (gr. Anástasis) dem Herrn vorbehalten. Das unlängst (1950) von Rom eingeführte Dogma der „Assumption“ (Maria Himmelfahrt) als notwendige Folge des römischen Dogmas der „Unbefleckten Empfängnis“ aus dem Jahre 1854, lässt auf zwiespältige Weise annehmen, dass die Mutter Gottes, da sie frei gewesen sei vom Erbe Adams (d.h. von den Folgen der Ursünde - in der irrigen röm.-katholischen Terminologie: frei von der „Erbschuld“ - und damit auch vom Tod), nicht gestorben, sondern vom Leben unmittelbar und leibhaftig in den Himmel hinaufgenommen worden sei, eine Ansicht, die von den Orthodoxen abgelehnt wird.
[5] Es wird noch berichtet, dass die Apostel, als sie zurückkehrten vom Begräbnis in Gethsemane, ein brüderliches Mahl hielten und wie üblich am Platz Christi am Kopfende des Tisches ein Stück Brot in Form eines Dreiecks niederlegten. Doch als sie dieses am Schluss des Mahls dem Brauch gemäß unter Anrufung des Namens Christi erhoben, vernahmen sie vom Himmel her die Stimme der Gottesmutter: „Freut euch, denn ich bin mit euch alle Tage“. Freudenerfüllt riefen da die Apostel mit einer einzigen Stimme: „Allheilige Gottgebärerin, steh uns bei“. Hier liegt der Ursprung des kurzen Gottesdienstes der Erhebung der Panagía, der in den Klöstern am Ende der Tafel der Festtage zelebriert wird. Siehe Méga Horológion („Großes Stundenbuch“), Fußnote zu den Tischgebeten.
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