Auf den Kreuzwegen Europas

 

Das Publikum des Westens ist daran gewohnt russische Ikonen mit den Werken aus den Ländereien des zentral-nördlichen Rußland (Moskaus und der naheliegenden Lehenszentren wie Novgorod und Pskov mit ihren nördlichen Provinzen) zu identifizieren. In Wirklichkeit haben aber die Ikonen auch in den slawischen Regionen, die weiter im Westen liegen, eine lange und reiche Geschichte, wo sie im Kontakt mit anderen Kulturen und Bevölkerungen unvermeidbare, zutiefst verschiedene und eigenwillige Charakteristiken annehmen.

Diese Position am Zusammenfluß zweier Zivilisationen - des orthodoxen Ostens und des lateinischen Westens - bestimmte in vielerlei Hinsicht die Geschichte des weißrussischen Volkes, dessen Sprache und Kultur zwischen dem 13. und dem 17. Jahrhundert innerhalb der plurinationalen slawischen Welt einen bedeutenden Einfluß ausübte. Zum Beispiel erschienen gerade über Weißrußland in Polen Ikonen und Fresken aus der orthodoxen Tradition, so wie in Rußland auch neue barocke Formen der sakralen Malerei und Architektur des Westens. Das byzantinische Element blieb auf der weißrussischen Ikone erhalten, aber die Malweisen erfuhren zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert bemerkenswerte Veränderungen: Die Assimilation der Formen der europäischen Laien-Kultur, in erster Linie der Porträtmalerei aus der Renaissance-Epoche, erfährt ein Echo in dem besonderen«physiognomischen Verismus» der weißrussischen Ikonen, genauso, wie die tiefen Ikonen-Traditionen Weißrußlands in den Orginalzeichnungen ihrer Porträtmalerei aufscheinen.

 

Auf den weißrussischen Ikonen treten auch hochinteressante Problematiken zutage, die mit den religiösen Spannungen des 16. / 17. Jahrhunderts zu tun haben: Mit der protestantischen Reformation, mit der katholischen Gegenreformation, mit der Union von Brest welche ein Zeichen für die Rückkehr eines großen Teils der christlichen Kommunitäten der Rzecz Pospolita (wie sich der polnisch-litauische Staat nannte, zu dem auch Weißrußland gehörte) in den Leib der Kirche war, und bei den Bemühungen, eine künstlerische Sprache zu finden, welche die authentische Tradition der Kirche gegen alle ikonoklastischen Stöße der protestantischen Welt festigte. Es ist z.B. bedeutsam, daß sich die Ikone im orthodoxen und katholischen Milieu (Lateiner und Griechisch-Katholische) Weißrußlands substantiell einheitlich entwickelt und im Barock, parallel zur westlichen Welt eine Möglichkeit sieht, den protestantischen Spiritualismus durch die Entdeckung der Würde und Schönheit der Materie zu überwinden, in der Gott Fleisch geworden ist.

 

Diese Veröffentlichung ist das Werk des Fachmanns der mittelalterlichen weißrussischen sakralen Kunst Jurij Piskun, herausgegeben von der Fondazione Russia Cristiana, zusammen mit dem Orthodoxen Kulturzentrum der Heiligen Kyrill und Method von Minsk und will dem Leser helfen, einige dieser eindrucksvollen Ausdrucksmöglichkeiten zu entdecken.